Einblick in die Welt der Sorge: Dr. Martin Dornberg über sein neues Buch, das die Wirkmacht von Care erforscht

17.08.2023

Einblick in die Welt der Sorge: Dr. Martin Dornberg über sein neues Buch, das die Wirkmacht von Care erforscht

Unser Autor teilt seine Erkenntnisse über die tiefe Verbindung zwischen Sorge, Menschsein und Gesellschaft, von der Philosophie bis zur Kunst

In seinem neuen Werk „Sorge/Care: Wirkmacht und Kontexte eines Paradigmas“ taucht Dr. Martin Dornberg tief in das Gewebe der menschlichen Existenz ein, um die Bedeutung von Sorge zu erforschen. Von der Philosophie über Anthropologie bis hin zur zeitgenössischen Kunst verbindet Dornberg inspirierende Quellen und Denker:innen, um das facettenreiche Thema der Sorge in all seinen Schattierungen zu beleuchten.

Herr Dr. Dornberg, in Ihrem Buch „Dornberg: Sorge/Care: Wirkmacht und Kontexte eines Paradigmas“ erforschen Sie die tiefe Verankerung der Sorge im Menschsein. Können Sie uns kurz erläutern, welche inspirierenden Quellen und zeitgenössischen Denker:innen Sie zusammenführen, um das komplexe Thema der Sorge zu beleuchten?

Ich nähere mich dem Thema Sorge/Care von zeitgenössischen Denker:innen aus, die sich direkt mit dem Thema Sorge beschäftigen oder indirekt, indem Sie andere mit dem Thema Sorge/Care aber verbundene Fragen bearbeiten. Judith Butler etwa untersucht vor allem die Themen Bindung, Verletzlichkeit, Ausgeliefert- und Angewiesen-Sein aus philosophischer und queerfeministischer Sicht. Oder Bruno Latour sucht politisch eine Perspektive der „Erdverbundenheit“, die er derjenigen von Distanzierung oder Globalisierung entgegensetzt. Ich zeige, dass und wie beide sich dabei auch mit Sorge/Care auseinandersetzen bzw. versuche ihre Gedanken auf das Thema Sorge/Care hin weiter zuzuspitzen. Ähnliches unternehme ich mit dem Denken etwa von J.L. Nancy, G. Bataille, P. Sloterdijk, L. Irigaray, D. Haraway und anderen. Zudem arbeite ich in einer Reihe von Exkursen unterschiedliche aktuelle Zusammenhänge von Sorge/Care auf, zum Beispiel Verbindungen mit den Themen Gewalt/Trauma, Ökonomie, Zeit oder Geschlecht.

Ein herausragender Aspekt Ihrer Arbeit ist die Betonung der Motivation und Fähigkeit zur Sorge. Anstatt sie als bloße Ethik des Sollens zu betrachten, zeigen Sie, warum wir uns sorgen und wie diese Sorge unser Handeln prägt. Können Sie uns einige Einblicke geben, wie Sie Philosophie, Anthropologie und aktuelle gesellschaftliche Bezüge miteinander verbinden, um dieses Verständnis zu vertiefen?

Sorge/Care wird häufig als Last gesehen und imperativisch oder ethisch verhandelt: also, dass man für Andere oder sich sorgen „soll“. Unterbelichtet dabei bleibt, dass Sorge/Care ein existentielles Apriori ist, das uns befähigt, Mensch zu sein, zu lieben, sowie hilfreiche Bindungen aufzubauen und zu pflegen. Aus diesem grundlegenden „Können“ resultiert immer wieder auch ein Sorgen-„Wollen“, ein Wunsch nach und eine Fähigkeit zu Verantwortung und Verantwortungsübernahme. Eine „response-ability“, wie Donna Haraway das nennt.

Da Sorge bzw. Sorgearbeit häufig „unsichtbar“ bleiben und gesellschaftlich unterbewertet (wie etwa typischerweise z.B. die „Hausarbeit“), fehlt nicht selten ein Denken und Handeln, das auf diese Bereiche und deren hohe Bedeutung reflektiert. Menschen werden immer noch eher als freie Wesen gesehen und als nach Autonomie, Produktion und Konsum strebend, anstatt als abhängige Wesen und nach Verbundenheit und Austausch suchend und diese erlebend und stiftend. Damit zusammen hängt, dass Kummer („Sorgen“) und Leid in der Tendenz gesellschaftlich ebenfalls abgewertet werden und unsichtbar gemacht, wobei gerade die Erfahrungen von Kummer, Leid, Trauer, Depression/Melancholie oder z.B. von „environmental grief“ (Umwelttrauer) einen tiefen Bezug zu uns, zu Anderen und zu Pflanzen, Tieren und der Erde insgesamt herzustellen in der Lage sind. Leid, Sorge, Kummer machen uns fühl- und beziehungsfähiger und paradoxerweise dadurch auch fähiger zu Glück, zu einem Denken und Handeln aus einer bio-psycho-sozialen Fülle, aus einem Können und Wollen heraus.

Ihre Expertise als Leiter des Zentrums für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist sicherlich ein wichtiger Bestandteil Ihres Buches. Können Sie uns erzählen, wie Ihre langjährige Praxiserfahrung zu Ihrer Perspektive auf die Bedeutung von Care im Kontext von Politik, Psychosomatik/Psychologie und Kunst beigetragen hat? Und wie sehen Sie diese Erkenntnisse als wertvolle Bereicherung für Fachleute, Studierende und Leser:innen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen?

Für eine tragfähige Theorie und hilfreiche Praxen in Psychotherapie und Psychosomatischer Medizin sind Bezüge zum Thema bzw. Erfahrungen von Sorge/Care aus meiner Sicht absolut grundlegend. Für psychoanalytisch-tiefenpsychologische und auch systemische Theorien, Haltungen und Vorgehensweisen sind entwicklungspsychologische und sozialisatorische Prozesse beispielsweise zentral, in die Sorge/Care essentiell einbezogen sind. Nicht nur Psychotherapie, sondern auch ärztliches Handeln, ja gesellschaftliches Handeln insgesamt ist nur im Ausgang von Sorge/Care tiefgreifend erlebbar einerseits und nur so sinnstiftend konzeptualisierbar andererseits. Auch Aus- und Weiterbildung in Psychotherapie, Medizin, Pflege und sozialer Arbeit kommen an der Reflexion, Weitergabe und Entwicklung bzw. der „Pflege“ von Sorge/Care nicht vorbei.

In der zeitgenössischen Kunst wird darüber hinaus immer an Formen unseres Umgangs mit der Erde und uns selbst gearbeitet: er wird reflektiert, ästhetisch umgesetzt, verfremdet und vervielfältigt. Kunst sucht empathisch nach sinnlichen, ästhetischen, unser Denken und Handeln erweiternden Zugängen zu uns und Anderem. Implizit oder auch explizit kann diese Kunst auch als (aus/durch/mit) Prozesse/n von Sorge/Kummer/Kümmern beschrieben werden. Etwa indem sie, wie z.B. in der im Buch untersuchten Installation von J. Beuys „zeige deine Wunde“, existentielle menschliche Themen, wie etwa die unserer Verletzlichkeit und Verwundbarkeit sinnlich und konkret thematisieren und damit vertieft erfahrbar machen.

Seit 2008 führe ich in Zusammenarbeit mit dem an der Hochschule Offenburg lehrenden Medienkünstler Daniel Fetzner selbst künstlerisch-philosophische Projekte durch, die immer wieder auch die Frage von Sorge/Kummer und Care berühren. Auf diese Projekte wird ebenfalls im Buch Bezug genommen (vgl.:  www.deglobalize.com).

Mit „Dornberg: Sorge/Care: Wirkmacht und Kontexte eines Paradigmas“ gelingt es Dr. Martin Dornberg auf eindrucksvolle Weise, den Schleier von der allgegenwärtigen, aber oft übersehenen Bedeutung der Sorge zu lüften. Durch die Verknüpfung von Philosophie, Anthropologie und zeitgenössischer Kunst schafft er eine Brücke zwischen Theorie und Praxis, die nicht nur Fachleuten und Studierenden, sondern auch jedem Leser und jeder Leserin eine neue Perspektive auf die menschliche Existenz und das Wirken der Sorge eröffnet. Dieses Buch wird zweifellos dazu beitragen, das Bewusstsein für die essenzielle Rolle der Sorge in unserer Welt zu schärfen und unsere Art zu denken und zu handeln nachhaltig zu beeinflussen.

 

Leid, Sorge, Kummer machen uns fühl- und beziehungsfähiger und paradoxerweise dadurch auch fähiger zu Glück.

Dr. Dr. Martin Dornberg