Wir haben ein Interview mit unserem Autor Dr. Joachim-Friedrich Kapp geführt, der vor Kurzem "Die Gründung der Moderne" im Tectum Verlag herausgegeben hat.
- 1 - Laut Ihres neuen Bandes „Die Gründung der Moderne“ markiert das 18. Jahrhundert den Beginn eines bis heute andauernden Zeitalters der Innovation, also gleichzeitig den Beginn der Moderne. Können Sie drei zentrale Aspekte herausstellen, die aus dem behandelten Jahrhundert das Gründungszeitalter der Moderne machen?
Wenn man an Innovationen denkt, dann zunächst meist an solche auf dem technischen oder auch naturwissenschaftlichen Gebiet. Im 18. Jahrhundert haben aber philosophische, gedankliche Innovationen zunächst am meisten bewirkt und in gewisser Weise die sonstigen Innovationen zumindest beschleunigt. Philosophische Gedanken, die zur Beschreibung der Menschenrechte führten und mit denen die Gewaltenteilung verwirklicht wurde, gaben den Menschen Freiheit und bewahrten sie vor obrigkeitlicher Willkür und Unterdrückung. Die Menschenrechtserklärung von Virginia, aus der die Unabhängigkeitserklärung hervorging, wird als die Gründungsurkunde des modernen Westens angesehen. Die dort formulierten Gedanken und Normen haben die amerikanische, die französische und die industrielle Revolution bewirkt. Technische Innovation und die Industrialisierung konnten zu einem so großen wirtschaftlichen Aufschwung nur führen, weil zuvor ein durch die Festschreibung der Menschenrechte selbstbewusstes Bürgertum entstand, das seine Freiheit nutzen konnte und wollte. Der Absolutismus war abgeschafft, die in den Verfassungen festgelegte Gewaltenteilung stärkte zusätzlich das Freiheits- und Selbstwertgefühl der Bürger. Kein Wunder, dass sich nun Innovationen auf vielen Gebieten ergaben, die einhergingen mit einem starken Aufschwung, der industriellen Revolution - Revolution deswegen genannt, weil sich der Fortschritt geradezu explosionsartig darstellte. Es war die Übertragung von der Hand auf die Maschine auf immer mehr Gebieten der Fertigung, die die industrielle Revolution einleitete und ermöglichte. Die Druckerpresse und die Windmühlen waren frühe Vorläufer dieses Prinzips gewesen. Die Maschinen arbeiteten unermüdlich und mindestens ebenso sorgfältig wie der Mensch. Fabriken entstanden, bahnbrechende Erfindungen sorgten auf allen Gebieten für Fortschritt. In der Naturwissenschaft, der Naturforschung, kam es im Verlauf des Jahrhunderts, speziell in der Chemie, zu einem fundamentalen Wandel. Hing man bislang der Auffassung der Alchemisten an, dass sich alle chemischen Phänomene auf die hypothetisch vermutete Ursubstanz, das Phlogiston, zurückführen ließen und dass es nach Aristoteles vier Elemente gab: Erde, Wasser, Luft und Feuer, so wurde diese jahrtausendealte Annahme durch die Erkenntnis, dass sich die „Elemente“ in verschiedene Bestandteile zerlegen ließen, mit einem Schlag als nicht mehr haltbar verworfen. Die Forschung drang immer weiter in die molekulare und schließlich atomare Ebene vor.
In der Politik gab es große Veränderungen, die ebenfalls in die Welt der Moderne führten: Amerika befreite sich von seinem Kolonialherren. Es war absehbar, dass Amerika in Zukunft eine Weltmacht werden würde, denn die dorthin ausgewanderten Engländer hatten ihren Pragmatismus und Handelsgeist in diesen riesigen Kontinent mitgebracht.
In Frankreich hatten die Autoren der französischen Literatur der Aufklärung fast über ein Jahrhundert hinweg gegen die absolutistische Regierungsform des Königs "von Gottes Gnaden" und die Unterdrückung durch die Kirche gewandt und den gedanklichen Weg zu der Forderung nach "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und einer neuen Staatsform formuliert. Die amerikanische Revolution beschleunigte den Umsturz in Frankreich.
Preußen wurde Großmacht und ein Gegenpol gegen das Habsburger Reich. Dies wies in die Zukunft Deutschlands. Durch die Siege Preußens in den Schlesischen Kriegen wurde auch die konfessionelle Spaltung Europas endgültig festgeschrieben. Der Norden Europas grenzte sich gegen den Süden ab. Dies ist bis heute so geblieben, besonders deutlich erkennbar in der sehr unterschiedlichen Ordnungspolitik und wirtschaftspolitischen Strategie der nördlichen und südlichen Länder.
Russland wurde eine starke Macht im Osten, die stark nach Westen drängte. Russland und Österreich schwächten das Osmanische Reich. Auch dies wies in die Zukunft.
- 2 - Sie sagen, es gebe eine Art neu zu denken und zu fühlen. Ist das hauptsächlich positiv belegt?
Ein durch seine Beiträge zum Wohlstand der Gesellschaft erstarktes, selbstbewusstes Bürgertum stellte zunehmend bislang gültige Prinzipien monarchischer und kirchlicher Obrigkeit in Frage und forderte Rechte, die seine Pflichten aufwogen. Dies waren die Kräfte, die unterhalb der politischen Ebene in den Gedanken wirkten und große gesellschaftliche Veränderungen bewirken würden. Sehr deutlich zeigte sich dieses Phänomen auch in der Wissenschaft, Kunst, Musik, Architektur. Wenn das Bürgertum durch die Gedanken der Aufklärung unmittelbar gestärkt wurde, wenn alle Obrigkeit, alle bislang gültigen Überzeugungen auf den Prüfstand gestellt wurden, so musste sich diese Entwicklung nicht nur in einem neuen Stil in Kunst und Architektur, sondern auch in der Musik widerspiegeln. Es ist der Schritt von der Kirchenmusik des Barock zur Wiener Klassik, in der Architektur der Weg vom Barock über das Rokoko zum Klassizismus, in der Malerei zum Realismus und in die Romantik.
- 3 - Wer sollte die Lektüre Ihres neuen Buches keinesfalls missen?
Jeder, der sich für geschichtliche Entwicklungen, fortdauernd wirksame Kräfte in der menschlichen Gesellschaft interessiert und eine Antwort auf die Frage sucht, welches eigentlich die bestimmenden Einflussfaktoren für unsere heutige Welt waren, wann sie auftraten und welche Personen sie repräsentierten.
Kapp, Die Gründung der Moderne